Stephan Siegrist
Profi Alpinist
Bhagirathi III:
Indien ist und bleibt – auf und abseits der Berge – ein Abenteuer für sich.
´Jonas Schild berichtet aus dem realistischen Expeditionsalltag – von schicksalshaften Rückschlägen und ungeplanten Erfolgen.
Im letzten September reisten Stephan Siegrist, Kaspar Grossniklaus, Hugo Beguin und ich (Jonas Schild) in den Garhwal Himalaya in Indien. Für Stef und mich war es der dritte Versuch, die Südwand des Shivlings (6543 m.ü.M.) erstzubegehen. Unser erster Anlauf im Jahr 2021 mussten wir aufgrund der Höhenkrankheit eines Teammitglieds auf 6100 m.ü.M. abbrechen, und der zweite Versuch im Jahr 2022 scheiterte an den anhaltend schlechten Wetterbedingungen, die uns keinen Versuch ermöglichten. So war die Hoffnung gross, dass es diesmal klappen würde.
Anreise
Die zweitägige Busfahrt von Delhi nach Gangotri verzögerte sich aufgrund heftiger Monsunregen um einen Tag. In Gangotri angekommen, mussten wir noch einen weiteren Tag warten, um die finale Genehmigung für den Nationalpark zu erhalten. Dann konnte es endlich losgehen. Über drei Tage wanderten wir gemütlich zu unserem Basislager unterhalb der Südwand des Shivlings auf 4600 m.ü.M. Dabei liessen wir uns genügend Zeit, um uns gut an die Höhe zu akklimatisieren. Am dritten Tag errichteten wir das Basislager im Schneesturm und mit 30 cm Neuschnee – kein idealer Start. Doch wie sich herausstellen sollte, war dies der letzte Schneefall für fast einen Monat.
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Akklimatisierung
Nach einigen Tagen der Akklimatisierung und des Einlebens im Basislager brachten wir bereits die erste Materialladung ins ABC (Advanced Base Camp = Vorgeschobenes Basislager) auf 5400 m.ü.M. Zum ersten Mal hatten wir wieder Blick auf die Wand und unsere geplante Linie. Die Bedingungen schienen sensationell. Nach zwei weiteren Akklimatisationsrunden – einer Nacht in einem Col oberhalb des Basislagers und einer Nacht im ABC – fühlten wir uns bereit, den Versuch zu starten. Aufgrund des Steinschlags war der Aufstieg ins ABC nur nachts oder am frühen Morgen sicher, weshalb wir am ersten Tag unseres Versuchs entschieden, vom Basislager bereits bis ins Camp 1 auf 5700 m.ü.M zu klettern.
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Bekannte Route, erschütternde Bedingungen
Am nächsten Tag starteten wir mit den ersten Sonnenstrahlen. Über sieben wunderschöne Seillängen erkletterten wir den steilen Pfeiler bis Camp 2 auf 6000 m.ü.M. Die Kletterei war perfekt, die Risse ideal; die Schlüsselstelle, die ich 2021 noch technisch geklettert hatte, ging diesmal frei. Pure Kletterfreude auf rund 6000 Metern! Trotz dieses erfolgreichen Tages belastete uns jedoch die Tatsache, dass sich der Berg in den letzten drei Jahren erheblich verändert hatte. Eine ganze Seillänge war nicht mehr vorhanden und war abgestürzt. Risse, in die wir 2021 Schlaghaken gesetzt hatten, waren mehrere Zentimeter auseinandergegangen. Der gesamte untere Teil des Pfeilers war sandig – ein deutliches Zeichen für die Bewegung des Gesteins. Zudem beobachteten wir mehrmals Steinschläge im Bereich vom Camp 1, wo wir am Vortag den ganzen Nachmittag verbracht hatten. Für uns war klar, dass wir dort noch genau ein einziges Mal vorbeikommen werden – beim Abstieg.
Abbruch
Beim Abendessen dann der Schock: Kaspar musste sich plötzlich übergeben und zeigte erste Anzeichen von Höhenkrankheit. Stef und ich schauten uns fassungslos an – gleiche Geschichte, gleicher Ort, gleiche Höhe wie beim ersten Versuch 2021. An Aufgeben wollten wir in dem Moment noch nicht denken. Wir rieten Kaspar, etwas zu schlafen. Als wir ihn um Mitternacht weckten, teilte er uns mit, dass es ihm nicht besser ging. Ohne Diskussion war klar, dass wir umkehren mussten. Wir holten die 100 Meter Seil, die wir am Vorabend fixiert hatten, zurück und begannen mit dem Abseilen. Der Abstieg verlief effizient, und wir waren uns einig, dass wir bei Sonnenaufgang unterhalb des ABCs sein wollten, um dem Steinschlag zu entkommen. Zum Frühstück waren wir bereits wieder im Basislager und genossen einen Kaffee. Trotz der Erleichterung, dass alle gesund zurückgekehrt waren, merkten Stef und ich bald, wie zermürbend es war, erneut am selben Ort und aufgrund derselben Umstände umkehren zu müssen.
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Plan B
Anstatt den Kopf hängen zu lassen, erinnerten wir uns an den spontan entstandenen Plan B während der zweiten Shivling Expedition: eine traumhafte Risskletterei an der Kirti Nose, direkt neben unserem Basislager. Die erfolgreiche Erstbegehung war damals auch ein Trost für den nicht gelungenen Versuch am Shivling. Es fiel uns alles andere als leicht, uns neuen Möglichkeiten zu öffnen und ein Ziel loszulassen, das uns lange Zeit intensiv begleitet hatte. Doch wir merkten, dass wir uns mental und körperlich noch immer in unserer Komfortzone bewegten und dass die Expedition noch lange nicht vorbei war.
Nur vier Tage nach unserer Rückkehr ins Basecamp entschieden wir uns, gemeinsam (Kaspar hatte sich wieder erholt) einen Versuch am Bhagirathi III (6454 m.ü.M.) über den Südwest Grat zu wagen. Wir starteten von unserem Basecamp aus, überquerten den zerklüfteten Gangotri- Gletscher und stiegen bis auf eine Höhe von 5600 m.ü.M. ins Lager 1 auf. Nach einer langen Nacht brachen wir um 6:00 Uhr auf, zunächst über Schneefelder, bis wir den Beginn des Grates erreichten. Dort begann das dunkle Gesteinsband, aus dem der obere Teil der Bhagirathi-Gruppe besteht und das berüchtigt für seine Brüchigkeit ist. Durch moderate, aber äusserst brüchige Kletterei gewannen wir an Höhe. Die Schwierigkeiten bewegten sich zwischen dem 4. und 5. Grad. Dabei bestand die Herausforderung hauptsächlich darin, Griffe und Tritte zu finden, die kompakt genug waren, damit wir uns an ihnen halten konnten. Gleichzeitig forderte uns die Wegfindung durch das Meer aus brüchigem Felsen. Vorsichtig, aber stetig kamen wir gut voran.
Es folgten zwei Vorgipfel mit kurzen Abstiegen, bevor wir uns um die Mittagszeit glücklich auf dem Hauptgipfel umarmten. Den Abstieg über einige Abseilstellen meisterten wir schnell und problemlos, sodass wir noch am selben Abend im Basislager auf unseren gelungenen Gipfelerfolg anstossen konnten. Da wir am Grat keinerlei Material von vorherigen Besteigungen gefunden haben und weder über die Indian Mountain Federation (IMF) noch online Informationen zu einer Begehung finden konnten, gehen wir davon aus, dass uns mit dem Bhagirathi III Südwest Grat sogar eine Erstbegehung gelungen ist. Viel wichtiger ist aber, dass uns die Begehung am Bhagirathi III einen schönen Abschluss der Expedition bescherte. Nach der erneuten Enttäuschung am Shivling können wir dennoch auf eine erfolgreiche Expedition zurückblicken, begleitet von gutem Wetter und einem grossartigen Team. Indien ist und bleibt – auf und abseits der Berge – ein Abenteuer für sich.
Zur Begehung: Bhagirathi III, Südwest Grat, 5. Schwierigkeitsgrad im Alpinstil, 1900 m Basecamp bis Gipfel, Gipfelbesteigung am 8. Oktober