Stephan Siegrist
Profi Alpinist
Cerro Cachet: Hommage an verlorene Freunde
Es ist meine 19. Expedition nach Patagonien, aber meine erste am nördlichen Inlandeis.
Text von Tobias Hatje ⸺ Es ist 6.20 Uhr als Lukas, Nico und ich aus unserem ABC-Lager am Fuß des Cerro Cachet aufbrechen. Bis vor zwei Stunden tobte draussen noch ein Sturm. Wir sinken leicht in den Nassschnee ein, der am Vortag gefallen ist und finden auf Anhieb einen guten Weg durch die Spalten. Neben uns brechen immer wieder Tonnen von Eis ab und Rauschen in die Tiefe. Das Knarzen und Krachen der Seracs war bereits das tägliche Grundrauschen, das bis zu unserem rund 20 Kilometer entfernten Basecamp vordrang.
Die Idee und die konkreten Planungen für diesen Trip nach Patagonien liegen zu diesem Zeitpunkt bereits elf Monate zurück. Und die Expedition stand zu Beginn unter keinem guten Stern. Mit Julian Zanker und Thomas Huber war ich im Jahr zuvor in Kashmir gewesen und wir hatten eine erfolgreiche Expedition am Cerro Kishtwar unternommen. Nach unserem Gipfelerfolg in Kashmir war Julian und mir sofort klar, dass wir bald wieder zusammen los müssen und haben in verschiedenen Gebieten der Welt recherchiert. Doch am 24. Februar des letzten Jahres drehte sich die Welt plötzlich anders: Julian verunglückte tödlich in der Eiger-Nordwand, einer Wand, die er diverse Male durchstiegen ist. Ich war in einer Schockstarre und mir fehlte die Motivation, das Patagonien-Projekt weiter zu planen. Keine sechs Wochen später der nächste Schock: David Lama, ebenfalls ein sehr guter Freund und Expeditionspartner, wurde in Kanada zusammen mit Hansjörg Auer und Jess Roskelley von einer Lawine begraben. Es fühlte sich an, also ob mir der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Meine Leidenschaft für die Berge nahm sich eine Auszeit, meine Gedanken im Kopf fuhren Karussell. Bergsteigen birgt ein hohes Restriskio, das ist mir klar. Aber die Einschläge waren doch in kurzer Zeit sehr zahlreich und im engsten Umfeld. Sollte ich wirklich die nicht unerheblichen, realen Gefahren einer Expedition wieder auf mich nehmen? Ist es das wert oder fordere ich mein Schicksal unter Umständen zu stark heraus? Mit Familie und Kindern wandelt sich der Blick auf die Risiken, die man eingeht. Andererseits ist mir bewusst, dass solche Expeditionen, der Aufbruch ins Unbekannte, einen bedeutenden Teil meiner Persönlichkeit ausmachen. Nach einer Zeit fing ich mich wieder und zusammen mit Nico, der inzwischen mit an Bord war, haben wir uns entschieden, das Projekt „Northern Patagonien“ weiter zu verfolgen. Als dritten Kletterpartner konnten wir Lukas Hinterberger gewinnen, einem Appenzeller, mit dem Nico schon in Pakistan und China auf Expeditionen war. Und außerdem fragte ich noch den Hamburger Tobias Hatje, einen Freund und Begleiter einer früheren Kashmir Expedition, der uns bis zum Basecamp begleiten sollte.
Vor genau einem Monat sind wir in Santiago de Chile angekommen, haben mehr als drei Wochen im Basecamp verbracht. Zehn Tage zuvor war es uns gelungen, in einem kurzen Wetterfenster auf den Cerro Largo zu steigen. Der Aufstieg auf den 2799 Meter hohen Gipfeleispilz glich eher einer anspruchsvollen Skitour mit einer kurzen Eiskletterpassage ganz zum Schluß. Ein guter Einstieg für die Expedition, aber nicht die Herausforderung, die wir eigentlich suchten. Nun endlich liegen die ersten steileren Kletterpassagen des Cachet vor uns. Alles ist deutlich größer und imposanter, als wir es beim Betrachten durchs Fernglas realisiert haben.
Durch eine gewaltige Schlucht beginnt der Einstieg. Die Wände sind an den Seiten mit Rime-Eis bepackt, das im Morgenlicht strahlend leuchtet. Ein magischer Anblick, der uns nach den vielen Regentagen im Basecamp und im ABC-Zelt einen gehörigen Motivationsschub liefert. Doch Freude und Frust liegen bei neuen Routen eng beieinander: Einerseits die Euphorie, wenn man auf Anhieb einen guten, schnellen Weg nach oben findet. Anderseits der zeitliche Druck, verschiedene Varianten auszuprobieren, weil die weitere Route schwer einzusehen ist. Man weiß nie genau, wie es weitergeht und wie bei einem guten Krimi steigt die Spannung mit jedem Absatz. Auf dem Col seile ich mich 20 Meter in die Ostseite ab, um dort vielleicht einen Weg auf den Pass zu entdecken. Ein lautes „Wumm“ Geräusch dröhnt herüber und macht uns klar, dass auf der Leeseite die Lawinengefahr deutlich größer ist. Um 10 Uhr stehen wir endlich in 2054 Meter Höhe auf dem Pass. Die ersten 1500 Höhenmeter liegen hinter uns, vor uns ragt eine 600 Meter hohe, senkrechte Wand in den blauen, patagonischen Himmel. Kletter-Neuland. Einer dieser seltenen weißen Flecken in der vertikalen Welt, die für uns Alpinisten sowas sind, wie die dicken Nuggets im Yukon für die Goldgräber des 19. Jahrhunderts. Bislang wurde der Cerro Cachet lediglich zweimal über eher einfaches Gelände auf der Inlandeis zugewandten Seite bestiegen. Die ersten 80 Höhenmeter der Wand liegen schnell hinter uns, doch die dünne Eisauflage auf den Felsplatten schmilzt unter den Sonnenstrahlen dahin wie Butter in der Mikrowelle. Von oben werden wir bereits mit Eispartikeln beschossen, ein Signal, dass es schnell gehen muss. Es wird hektisch. Das Sicherungsmaterial befindet sich noch in den Rucksäcken und hängt nicht sortiert am Gurt. Wertvolle Zeit verstreicht bis ich los steige. Unter meinen Steigeisen brechen die dünnen Schneeauflagen weg wie Kekse im Schraubstock. Um kleinste Kanten im Granit zu erkennen, an denen meine Eishauen Halt finden, muss ich erstmal den Felsen vom Schnee befreien. An eine Zwischensicherung ist kaum zu denken. Das fühlt sich recht unsexy an, denn ich befinde mich rund zehn Meter diagonal über meinen Partnern Lukas und Nico. Und ein Pendelsturz in dieser Situation ist nicht dass, was man unbedingt braucht. Einen Verletzten aus einer solchen Wand abzuseilen, dauert Stunden. Danach würde ein mehrstündiger Abstieg über den Gletscher und den Pass zurück ins Basecamp folgen. Doch selbst im Basecamp ist man noch 'in the middel of nowhere'. Erst ein mehrtägiger Transport bringt einen zurück nach Puerto Bertrand, der ersten Station in der Zivilisation. Und auch dort gibt es noch keine ärztliche Versorgung. Eine Rettung mit einem Militärhubschrauber wäre vielleicht eine Option, ist aber aufgrund der Wetterverhältnisse unrealistisch. Mit anderen Worten: Ein Unfall in unserer Situation wäre der Super-Gau.
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Mit diesem Gedanken im Hinterkopf fällt es nicht leicht, eine seriös zu kletternde Route in der Wand zu finden. Unsere ganze alpine Erfahrung ist gefordert und Nico und Lukas haben da auch einiges vorzuweisen. Beide waren im SAC-Expeditionskader, Nico ist bei seiner ersten Durchsteigung der Eiger-Nordwand gerade mal 18 Jahre alt. Gemeinsam mit Ueli Steck hält er den Team-Speedrekord am Eiger (3: 46 Std.). Bei unserer Expedition fungiert er zudem noch als Kameramann und Fotograf. Genau wie Nico ist auch Lukas, Spitzname Hönti, zum ersten Mal in Patagonien. Der Appenzeller ist gerade als Bergführer-Anwärter dabei, seinen Erfahrungsschatz zu vergrößern. Und er ist eine echte Kante: Stahlhart durchtrainiert lässt er am Kletterbrett im Basecamp jeden Morgen die Muskeln spielen. Die helfen, reichen aber auch nicht um die optimale Route zu finden. Wir befinden uns unter einer großen Mauer, die man durch einen aufwendig zu kletternden Riss überwinden könnte. Aber das wäre sehr zeitintensiv - und eines hat man in Patagonien am Berg quasi nie: Zeit. In unserem Fall ist es lediglich ein Tag, denn für den nächsten Morgen sind bereits Windgeschwindigkeiten von knapp 100 Kilometer pro Stunde vorausgesagt.
Statt des Risses wählen wir eine andere Route, Nico übernimmt die Führung. Souverän meistert er den „Boulder“, eine kurze Steilstufe, die sich nicht absichern lässt. Das danach schnell laufende Seil signalisiert Hönti und mir, dass es etwas leichter wird. „Stand“ hören wir endlich von Nico, wir klettern hinterher. Die nächsten 60 Meter der Eisrampe ist mit Wasser unterlaufen. „Huren Scheißdreck, dieses Eis“, dröhnt es von oben zu uns runter. Nico kämpft mit den Bedingungen, schafft es aber schließlich, den nächsten Stand an einem abgespaltenen Felspfeiler zu legen. Wir steigen erneut hinterher, der stark zerrissene Nef Gletscher ist unter uns gut einzusehen. Weiter geht es durch einen Kamin, Lukas übernimmt den Vorstieg. Steigeisen knirschen im Fels, die Klettersicherungen am Gurt kratzen am Granit, Zentimeter um Zentimeter arbeitet er sich vor. Er kann sich kaum mehr bewegen in dem extrem schmalen Kamin, seine Hüften verklemmen sich im Felsen, er ist am fluchen und kämpfen. Als er zu uns runterschaut, lassen seine weit geöffneten Augen erkennen, dass er gerade richtig gefordert ist. Endlich hören wir nach einiger Zeit das erlösende Wort „Stand“. Wieder ist eine weitere Seillänge geschafft, es ist die schwerste unserer Tour, wie sich später herausstellt. Nach weiteren 120 Metern leichter Kletterei stehen wir endlich auf dem Gipfelgrat. Wir lösen uns vom Seil und es geht zügig über leichtes Rime-Eis und Schnee auf den Hauptgipfel.
Geschafft. Knapp 12 Stunden nach dem Start im ABC liegen wir uns erschöpft in den Armen. Die Wand hat uns einiges abverlangt, aber unsere Taktik und Routenwahl ist aufgegangen. Nach den Gipfelbildern hinterlassen wir auf dem Peak eine winzige Puppe. Es ist eine Hommage an Julian, so ist er bei unserer Erstbesteigung dabei gewesen und hat den Gipfel mit erklommen. Für Julian, aber auch für David Lama und Ueli Steck taufen wir unsere Route: Homenaje a los amigos perdidos (Hommage an verlorene Freunde).
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Auf uns wartet noch der Abstieg und es ist bereits 19.00 Uhr. Wir entscheiden uns in direkter Linie abzuseilen und es geht gut voran, auch wenn sich ablösendes Rime-Eis am Schluss für ein paar kritische Momente sorgt. Aber wir bleiben unversehrt und kurz nach Mitternacht erreichen wir auf der letzten Felge das ABC-Lager im Licht unserer Stirnlampen.
Am folgenden Tag geht es zurück in unser 'Dschungel'-Basecamp, das geschützt in einem kleinen Wäldchen liegt. Nach der ganzen Zeit ist es schon sowas wie ein Stück Heimat geworden in der patagonischen Wildnis. Und wir sind happy, dass wir uns beim Errichten unseres Camps soviel Mühe gegeben haben und es eine gewisse Gemütlichkeit und auch Schutz ausstrahlt. Die nächsten Tage relaxen wir, erholen uns von den Anstrengungen der Gipfelbesteigung und geniessen unser letztes, aufgespartes „Liquid Chicken“ - das letzte Bier.
Zehn Tage bleiben uns noch, genug Zeit für einen kleinen Peak oberhalb unseres Camps. Es ist eine skurrile Mondlandschaft, die sich uns 1500 Höhenmeter über unserem Basecamp präsentiert. Mit Türmen, Scheiben und riesigen Höckern, die aus dem Granitgestein ausgefräst sind - ein Szenario wie aus dem Film „Der Herr der Ringe“, es fehlt nur noch Gandalf.
Wie verabredet tauchen die beiden Gauchos Hector und Andaluis ein paar Tage später mit den Packpferden im Basecamp auf, unsere 'Swiss Exped 2019' geht zu Ende. Es war meine insgesamt 19. Expedition nach Patagonien, aber meine erste am Rande des nördlichen Inlandeises. Und es war ein Déjà vu: Erinnerungen an die ersten Expeditionen wurden wach, die von El Chaltén ausgingen, dem heutigen Mekka der Kletterszene. Zu Beginn der 90er Jahre bestand der Ort lediglich aus ein paar Häusern, man organisierte alles selbst und die Basecamps der unterschiedlichen Expeditionen waren die Anlaufstationen bei schlechtem Wetter. Es war pur, ausgesetzt, wild und abgeschieden damals – genauso wie ich es bei unserer 'Northern Patagonien Expedition' wieder empfunden habe. Und das ist es, was meine Expeditionsleidenschaft so befeuert. Into the Wild – so wie es auch Julian, David und Ueli am liebsten mochten.